VOL2008 Back to Journal Saturday, 29 November, 2008
Manfred Tinebor
Вологда-Онега-Ладога 2008
Vologda-Onega-Ladoga 2008
So weit die Füsse radeln...
Teil 2
Demut gegenüber den Mücken
Ich rolle die Straße in Richtung der karelischen Hauptstadt
Petrozavodsk. Die Straßendecke zeigt wechselnde Beschaffenheit. Obwohl ich
höllisch aufpasse, in kein tiefes Schlagloch zu geraten, kostet eine kurze
Ablenkung den dritten Plattfuss. Es ist wieder das Hinterrad.

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Giftiges Schlagloch
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Kaum stehe ich, machen sich wieder Mücken in Bataillonsstärke über mich her. Ich werde
ärgerlich und versuche wieder um mich schlagend die Angriffe abzuwehren, Dann
erinnere ich mich, dass das Herumschlagen schon gestern völlig sinnlos war –
ich wurde trotz heftiger Abwehr völlig zerstochen. Also beschliesse ich, mich
nicht über Dinge zu ärgern, die ich nicht ändern kann und stelle meine
sinnlosen Abwehrversuche ein. Mein Arger klingt ab und für die Reparatur habe
ich wieder beide Hände frei. Ich benötige meinen letzten Schlauch. Plötzlich
merke ich, dass mir die Mückenstiche nichts mehr ausmachen. Auch als ich
wieder auf dem Rad sitze und meine Route fortsetze, stelle ich keinen Juckreiz
der Stichstellen fest. Ich brauche mich nicht kratzen und die Hautstellen röten
sich nicht wie gestern. Anscheinend hat meine Demut gegenüber den Mücken auch meine
Haut veranlasst ihre heftige Abwehrreaktion einzustellen :-)
In der Vormittagssonne erreiche ich Shuya, eine Vorstadt von
Petrozavodsk. Wie ich mich an die Streckenerläuterung in Vologda, am Abend vor
dem Start, erinnere, ist die Kontrolle in Shuya gegenüber der ursprünglichen
Streckenbeschreibung verlegt worden. Vom ursprünglichen Kontrollpunkt sollen
Hinweisschilder zum neuen Kontrollpunkt führen. Zumindest hatte ich das so
verstanden. Als ich den ursprünglichen Kontrollpunkt erreiche, sehe ich keine
Hinweisschilder. In meinem GPS ist der neue Kontrollpunkt nicht gespeichert. Ich
fahre die Gegend mit den umliegenden Straßen ab – nichts – kein Hinweisschild,
keine Kontrolle ist zu sehen. Bin ich vielleicht auf dem Weg zur ursprünglichen
Kontrollstelle an Hinweisschildern vorbeigefahren und habe diese übersehen? Ich
fahre ca. 15km auf dem Weg zurück, den ich gekommen bin, kehre um und steuere den
ursprünglichen Kontrollpunkt, aufmerksam nach Hinweisschildern Ausschau
haltend, erneut an. Wieder finde ich nichts. Was tun? Ich halte unschlüssig an
und krame mein Roadbook aus dem Rucksack. Vielleicht ist im Roadbook der Strassenname
der neuen Kontrolle eingetragen. Tatsächlich, ich habe Glück: die Kontrolle
soll in der Novaya Vilga sein.
Wo ist die Strasse „Novaya Vilga"?

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Dorf in Karelien
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Ich kurve durch die Stadt und suche die Novaya Vilga -
ergebnislos. Die Sonne brennt, ich schwitze, meine Wasserflaschen sind leer.
Obwohl ich an mehreren Geschäften vorbeikomme, kaufe ich mir nichts zu trinken.
Ich hoffe jeden Moment die Kontrollstelle zu finden und dort meine Flaschen zu
füllen. Ich frage einige Passanten nach der Strasse „Novaya Vilga“. Entweder
verstehen mich die Leute nicht oder Sie kennen die Strasse nicht. Ich komme zu
der Überzeugung, dass es sich um eine sehr kleine Strasse handeln muss. Die
Hauptstrassen müssten den Leuten doch namentlich bekannt sein. An einer Brücke
über den Fluss Shuya sehe ich einen gut besuchten Basar und Markt. Ich halte
an, stelle mein Fahrrad ab und schlendere, mehrfach nach meiner Strasse fragend,
über den Markt. Obwohl mehrere Leute sich bemühen, mir zu helfen, komme ich
nicht weiter mit meiner Suche. Ich setze mich zu einer musizierenden
Trachtengruppe. Es ist ein schöner Marktplatz. In der Hitze weht etwas Kühlung vom
Flussufer herrüber. Wären meine Gedanken nicht mit dem Auffinden der
Kontrollstelle befasst, hätte ich sicherlich mit Genuss der karelischen
Volksmusik zugehört. Mir fällt ein, dass ich eine Telefonnummer vom Vereins-Präsidenten
Mikhail habe. Ich will ihn mit Handy anrufen und den Weg zur Kontrollstelle
erfragen. Nach Eingabe der Vorwahlnummer meldet sich eine Automatenstimme. Ich
enträtsle „Der Service steht nicht zur Verfügung“. Ich kann hier von Karelien
aus nach Deutschland telefonieren aber offensichtlich nicht nach Russland.

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Landschaft Karelien
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Also weitersuchen, vom Rumsitzen werde ich die Kontrolle nicht finden. Ich radle die
Straßen am Ortsausgang ab. Dann fahre ich etwa 10km aus der Stadt heraus in
Richtung der weiteren Route – keine Kontrollstelle zu finden.
Ich entscheide, die Suche nach der Kontrollstelle in Shuya aufzugeben.
Ich beschliesse in die Stadt zurückzufahren und mir von irgendeinem Geschäft einen
Beweis-Stempel in mein Roadbook drücken zu lassen. Ich nehme mir vor, Getränke
zu kaufen und die Route zur nächste Kontrollstelle weiterzuradeln.
Im Geschäft sind keine Kunden. Die junge Verkäuferin spricht etwas englisch und scheint
Radsport interessiert. Wissbegierig lässt sie sich von mir über den Radmarathon, die Strecke
und die Kontrollen informieren. Als Sie einen Stempel in mein Roadbook drücken
will, stutzt Sie. Sie liest „Novaya Vilga“ und erklärt mir, dass „Novaya Vilga“
keine Strasse sondern ein kleiner Ort ist. Sie habe als Kind in Novaya Vilga
gewohnt und sei dort zur Schule gegangen. Die Kontrollstelle ist nicht in Shuya
sondern im Ort Novaya Vilga! Hilfsbereit versuchte das nette Mädel mir den Weg
im Mischmasch von englisch und russisch zu erklären. Ich verstand nicht alles. Aber ich weiss nun, dass es in Richtung
der weiteren Route liegt. Mit Dankrufen schwinge ich mich verabschiedend auf den
Sattel und reite zuversichtlich aus der Stadt. Ich schwitze stark auf der
heissen Strasse und werde durstiger. In der Aufregung, die Kontrollstelle doch
noch finden zu können, hatte ich die gekauften Getränke im Geschäft stehen
lassen. Noch einmal wollte ich nicht umkehren. Etwa 20 Kilometer ausserhalb von
Shuya war die Straße nagelneu und breit ausgebaut. Sie führt auf eine riesige
Autobahn ähnliche Kreuzung. Das Autobahnkreuz war gut beschildert. Auf den Schildern
standen eine Menge russische und karelische Städte, aber kein Ort „Novaya
Vilga“. Ich bog über die Rampen des Autobahnkreuzes in die vermeintlich
richtige Autobahn ein. Mein GPS meldete „out of road“. Das Autobahnkreuz und
die Autobahn ähnliche Straße waren so neu, dass mein GPS sie nicht kannte. Nach
weiteren 10 km merke ich, dass die schöne breite Strasse immer stärker eine
falsche Richtung einnahm. Ich vermute, dass ich auf der falschen Strasse bin
und kehre um. Auf der Gegenfahrbahn sehe ich nun in der Ferne einen Radler auf
mich zukommen. Als er näher kommt erkenne ich den Russen Valentin. Valentin ist
sich ebenfalls nicht sicher, ob er auf der richtigen Strasse ist, aber möchte
die Richtung weiterfahren. Ich kehre wieder um und schliesse mich ihm an. Nach
einigen weiteren km erkennt auch Valentin, dass die Strasse immer mehr in eine
falsche Richtung biegt. Wir halten an. Valentin erreicht Mikhail mit seinem
Handy und läßt sich von ihm den Weg nach Novaya Vilga erklären. Wir müssen
zurück zum Autobahnkreuz und hinter dem Kreuz auf eine kleinere Strasse
abbiegen.

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Claus & Peter in Novaya Vilga
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Durst
Inzwischen bin ich völlig ausgetrocknet und will Valentin um
einen Schluck Wasser bitten. Ich erkenne, dass Valentins Flaschen auch leer
sind. Valentin legt trotz der Hitze ein hohes Tempo vor. Ich schaffe es kaum,
in seinem Windschatten mitzukommen. Meine Augen brennen vom Salz des Schweisses
und ich bekomme Schwindelattacken. Ich fahre am Limit. Nach einigen km kann ich
nicht mehr mithalten. Da ich befürchte, allein die Kontrollstelle nicht zu
finden, bitte ich Valentin langsamer zu fahren. Er erkennt, wie es mir geht
und drosselt hilfsbereit sein Tempo. Gegen 16:00 Uhr erreiche ich dank
Valentins Windschatten (Большое спасибо Валентин!) nach 880km die Kontrolle 10 in Novaya Vilga. Beim
Absteigen falle ich fast vom Fahrrad. Ich fühle mich total ausgepowert. Auf der
Suche der Kontrollstelle bin ich mehr als fünf Stunden umhergeirrt. Ich bin unzufrieden,
dass ich auf der Routenbesprechung nicht besser aufgepasst hatte.
Nach einigen Gläsern Wasser und drei Tellern salziger Suppe geht
es mir besser. Ich ziehe Bilanz : ich habe noch etwa 340 km vor mir und noch 35
Stunden bis zum Zeitlimit – also: Zeit satt. Ich habe keine Sitzprobleme, kein
Kribbeln in den Händen und kein Problem mit meinem erschütterungsempfindlichen
Nacken. Mein Ärger über die fünf Stunden Verlust legt sich und mit der Rückkehr
der guten Laune kehren die Körperkräfte zurück.
Noch einen Teller Kohlsuppe mit Getreide, die Flaschen
gefüllt und ich bin wieder auf der Straße. Mein Rennrad läuft wieder von alleine.
Ich mache mich lang und der Carbonrenner macht Tempo.

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Unbefahrbare Schotterpiste
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Unbefahrbare Schotterpiste
Plötzlich endet die Straße in einer riesigen Baustelle. Eine
provisorische einspurige Fahrbahn mit etwa 5-10cm dicken, spitzen Schotterbruchsteinen
bereiten einen Weg, den Kraftfahrzeuge im Schrittempo fahren können. Mit meinem
Rennrad ist das Befahren fast unmöglich. Außerdem habe ich Angst, dass der
extrem grobe Schotter meinem lädierten Hinterrad den Rest gibt. Also absteigen
und zu Fuß weiter. Es ist staubig und heiss. Es gibt keinen Randstreifen auf
dem ich gehen könnte. rechts und links der Schottertrasse beginnt direkt
dichter Fichtenwald. Nach einigen Kilometern unsicherem Tapsen auf den
kippligen Schottersteinen zeigt die Karte auf meinem GPS einen Parallelweg am
Ufer des Sees Pryazhinskoe entlang. Der Parallelweg verläuft etwa 30km Parallel
in einem Abstand von 10km zur vorgeschriebenen Route. Darf ich die Route
verlassen und den offensichtlich befahrbaren Uferweg benutzen? Ich will keine
Disqualifizierung riskieren und bleibe zu Fuß tapsend auf dem Schotterweg. In
der Baustelle bilden sich lange Autoschlangen – stop and go. Die Autos kommen
auch nicht schneller voran als ich. Einen Lexus-Geländewagen mit winkenden
Kindern auf der Rückbank überhole ich nun schon zum dritten Mal zu Fuß. Nach
etwa drei Stunden Fußweg beginnt eine nigelnagelneue Strasse. Es ist nicht mehr
so heiss und die Sonne steht schon tief über den Baumwipfeln. Genau die
richtige Temperatur zum Tempo bolzen. Die Straße scheint gar keinen
Rollwiderstand zu haben und glatt zu sein, wie die Holzbahn beim
Sechstagerennen – phantastisch. Das GPS meldet 42km/h. Ich muss mich dämpfen um
nicht euphorisch zu werden. Der Lexus-Geländewagen überholt mich, drosselt die
Geschwindigkeit und fährt in gleichem Tempo vor mir her. Die Kinder hüpfen auf
der Sitzbank und winken lachend. Ich winke zurück und bin glücklich.

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Trockenfisch-Verkauf in Karelien
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Trockenfische
Rechts und links der gut ausgebauten Straße öffnet sich
gelegentlich der Wald und gibt die Sicht auf einen der zahlreichen tiefblauen Seen
frei. An einigen Seen gibt es kleine aus wenigen Holzhäusern bestehende Dörfer.
An der Strasse, auf freier Strecke, bieten Fischerfrauen an Holzlatten
aufgehängte, getrocknete Fische zum Kauf an. Ich halte an, frage ob ich
fotografieren darf. Die Frauen nennen mir die Preise. Ich schüttele den Kopf.
Ich will nichts kaufen, da ich nicht weiss, wie man getrockneten Fisch isst.
Die Frauen interpretieren mein Kopfschütteln als Handelsgeste und bieten
günstigere Preise.
In guter Stimmung erreiche ich um 21:30 Uhr nach 980 km die
Schule in Kotkozero. Der Stempel wird ins Roadbook auf den Platz von Kontrollpunkt
11 gedrückt. Es gibt zwei verschiedene warme Mahlzeiten zum Abendessen. Ich
kann mich nicht entscheiden und nehme beide. Während ich nach den Essen Saft
trinkend sitze bleibe, treffen Valentin und Sergej ein. Sergej hat sich
unterwegs einen großen Beutel voll Trockenfische gekauft und bietet mir einen
Fisch an. Nachdem ich ihm erklärt habe, dass ich nicht weiss, wie man die Teile isst,
werde ich eingewiesen: Der Fisch wird an den Tisch geschlagen, bis die Haut
abziebar ist. Dann wird er mit den Händen gebogen und gewalkt, bis sich
knackend etwa Kartoffelchip ähnliche Teile auslösen lassen. Ich probiere. Die
abglösten Teile sehen nicht nur so aus wie Kartoffelchips, sie schmecken auch
fast ähnlich – salzig und würzig, gar nicht fischig. Also wenn ich den Geschmack
eher gekannt hätte, dann hätte ich mir auch einen Beutel voll Fische gekauft.
Sergej erzählt, dass er Trockenfisch gern zum Bier knabbert.
Das fast pure Eiweiß sei nach dem Radtraining besser für die Muskelregeneration
geeignet statt fettiger Kohlenhydrate von Kartoffelchips. Ich stimme ihm zu.
Warum gibt es bei uns in Deutschland keinen Trockenfisch?

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Karelische Straße
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Es ist nun 22:30 Uhr. Die anderen Fahrer im Kontrollpunkt
wollen hier übernachten. Mir ist nicht nach schlafen und ich beschliesse noch
90 km bis Vidlitsa zu radeln. Ich rechne damit, gegen 2:30 Uhr in Vidlitsa
einzutreffen und plane dort bis zum Morgen zu schlafen. Ich finde niemanden, der
mich auf der Nachtfahrt nach Vidlitsa begleiten will. So starte ich allein.
Zunächst fühle ich mich wohl. Der MP3-Player spielt meine Lieblingssongs. Dann
wird mir kalt. Ich halte mehrmals an und ziehe nach und nach alle
Kleidungsstücke übereinander an, die ich in meinem Rucksack mitführe. Ich
durchfahre die beleuchtete Stadt Olonets. Da ich friere habe ich nicht viel
Blicke für die Stadt übrig. An einer Kreuzung in Olonets sehe ich dann dass
erstemal ein Straßenschild das zum Zielort hinweist --> Sortavala 196km. Der
Gedanke, dass die Distanz zum Ziel nun kürzer als ein RTF-Marathon geworden ist,
hebt meine Laune etwas. Ich biege die Strasse nach Norden ab.
Schlafattacken

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Ladoga-See
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Die Straßendecke ist in schlechtem Zustand. 30km hinter
Olonets, mitten in der Wildnis, durchschlägt ein übersehenes Schlagloch wieder
den Schlauch meines Hinterrades. Verflixt, ich hab keinen Schlauch mehr. Ich
hatte vergessen, an der letzten Kontrollstelle nach einem Schlauch zu fragen.
Nun muss ich flicken. Gut dass ich die durchgeschlagenen Schläuche nicht weg
geworfen habe. Es ist ausreichend hell um den Schlauch mit den kleinsten
Durchschlaglöchern auszusuchen und steif gefroren Fingern zitternd zu flicken. Unvorbereitet
werde ich schlagartig von Müdigkeit attackiert. Ich kann mich kaum wach halten.
Zittern und Schlafattacken übermannen mich gleichzeitig. Meine Hoffnung, dass
ich wieder wach werde, wenn ich auf dem Sattel sitze und die Pulsfrequenz
ansteigt, erfüllt sich nicht. Ich ertappe mich mehrmals dabei, dass ich mich
nach Augenaufschlag gefährlich dicht am Randstreifen der Fahrbahn befinde. Ich
versuche krampfartig zu verhindern Schlangenlinie zu fahren. Es gelingt mir
nicht. Als ich das Hinweisschild zu einem Parkplatz sehe, biege ich den kurzen
Waldweg zum Parkplatz ab. Im nächtlichen Schatten der Bäume sehe eine kleine
Grillhütte. Ich hole meine Aludecke aus dem Rucksack und lege mich auf eine
Bank der Hütte. Vor Kälte zitternd versuche ich das hochfrequente Summen der
Mücken unter der Decke zu ignorieren. Von einem Geräusch werde ich wach. Ich
schaue auf meine Uhr. Ich hatte etwa 1,5 Stunden geschlafen. Erstaunt stelle
ich fest, das die Aludecke meine Körperwärme gut bewahrt. Unter der Aludecke
friere ich nicht.

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Kontrolle Vidlitsa am Ladoga-See
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Braunbären, Wölfe?
Plötzlich höre ich eindeutig einen laut knackenden Ast. Jemand
oder etwas bewegt sich ganz in meiner Nähe. Mir fällt ein, dass es in Karelien
Braunbären, Wölfe und Luchse gibt. Ich lausche, ich höre nichts mehr, aber ich
kann nicht mehr einschlafen. Ich richte mich auf, schaue mich um und friere
wieder. Ich sehe nichts und niemanden. Aber an Schlaf ist nicht mehr zu denken.
Ich packe meine Aludecke in den Rucksack. Da ich so steif bin, dass ich Angst
habe, mit dem Fahrrad auf dem Waldweg zu stürzen, schiebe ich zur Strasse.
Auf der Strasse lässt sich das Fahrrad nur widerwillig in
Bewegung setzen. Die Pedalen laufen nicht rund. Ich quäle mich vorwärts. Auf
dem GPS-Bildschirm erkenne ich, dass sich links von mir der Ladoga-See
befindet. Ich biege auf einen Weg zum See ab, wo sich gemäß meinem GPS die
Kontrolle 12 befinden müsste. Ich erreiche den See , kann aber keine Kontrollstelle
entdecken. Ich fahre etwa 8km zurück, um zu schauen, ob ich eine Abzweigung
verpasst habe – nichts. Ich kehre um und fahre wieder in Routenrichtung.

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Toon, Pavel, Dimitriy, Andrew & Frank in Pitkyaranta
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Zelten am Ladoga-See
Gegen 4:00 Uhr sehe ich ein Lagerfeuer am Seeufer. Unter
Bäumen erkenne ich einige aufgestellte Zelte. Ich biege auf den Sandweg zu den
Zelten ab, bleibe mit dem Vorderrad im Sand stecken und stürze. Ich verstauche
mir die linke Hand. Dem Fahrrad passiert nichts. Ich schiebe meinen Renner zu
den Zelten. Müde, steif, frierend und mit verstauchter Hand erreiche ich die
Kontrollstelle 12 in der Nähe von Vidlitsa.
Während ich mich am Lagerfeuer aufwärme, wird mir von einem
netten Mädel eine Mahlzeit zubereitet. Beim Essen kann ich mich kaum wach
halten. Mir wird ein Schlafplatz in einem Zelt zugewiesen und ohne mich
richtig zuzudecken falle ich sofort in tiefen Schlaf. Gegen 7:00 Uhr wache ich
frierend auf. Auch eine Tasse heissen Tee wärmt mich nicht auf. Fröstelnd
schiebe ich mein Carbonross zur befestigten Strasse und setze meinen Ritt fort.
Wieder laufen die Pedalen nicht rund. Es wird hügelig. Mein Carbonross ist
nicht willig und ich muss es die Steigungen hinaufzwingen. Meine verstauchte
Hand schmerzt, ich fühle mich nicht wohl und bekomme Hunger. Ich bin heilfroh, als
ich gegen 12:00 Uhr die Ortstafel von Pitkyaranta erreiche. Hier in der Schule
befindet sich die letzte Kontrollstelle vor dem Ziel.
Der Essenstisch in der Schule ist reichlich gedeckt. Es gibt
Obst, Brot, Müsli, Milch, Fruchtsäfte und drei verschiedene warme Gerichte zur
Auswahl. Ich wähle alle drei! Nach dem Essen fühle ich mich wieder wohl. Wohlig
satt nicke ich auf dem Stuhl sitzend ein.

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Manfred erreicht Sortavala
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Euphorie
Gegen 14:30 starte ich zur letzten Etappe. Während ich in
der Schule war, hatte es geregnet. Ich habe nur noch eine 70 km hügelige
Strecke bis ins Ziel und etwa 10 Stunden bis zum Zeitlimit. Ich bin wieder gut
gelaunt und wegen des dicken Zeitpolsters ist meine Stimmung fast euphorisch. Ich
genieße die hügelige Landschaft, veranstalte ein Wettrennen mit freilaufenden
Rindern und habe Zeit, von der Route abzubiegen und mir Wasserfälle eines
Flusses anzuschauen. Gegen 17:30 erreiche ich die Hafenstadt Sortavala. Durch
den Ort radelnd halte ich Ausschau nach der Turnhalle, dem Ziel der 1.200 km
langen Tour. Ich durchradele den Ort, ohne die Turnhalle zu entdecken. Ich
drehe um und durchradele den Ort nochmals in entgegengesetzter Richtung. Wieder
sehe ich keine Turnhalle. Am Ortseingang begegnet mir der Israeli Avi.

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Peter & Frank glücklich im Ziel
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Ziel erreicht!
Nun suchen wir gemeinsam und entdecken an einem zerfallen
wirkendem Gebäude das Banner des Radsportvereins „Baltic Star“.
An dem zerfallen wirkendem Gebäude war ich zweimal vorbeigefahren,
ohne es als die gesuchte Turnhalle zu identifizieren. Von Innen war
die Turnhalle in erstaunlich gutem Zustand. Wir werden herzlich begrüßt.
Unseren Zielstempel um 18:01 Uhr bekommen wir erst nach der Einweisung in die zeremonielle
Trinkweise von Vodka.
Nach heisser Dusche und in sauberer Kleidung bin ich der
glücklichste Mensch der Welt: Ich habe mein mir gestecktes Ziel erreicht und
die 1.200 km lange Strecke in einer Gesamtzeit von 82 Stunden und 41 Minuten
zurückgelegt.
Besonderheiten:
Stark wechselnde Straßenbeschaffenheit. Zum Teil waren die
Strassen in derart katastrophalem Zustand, wie man ihn sicherlich in ganz Westeuropa nicht
findet:
- Schlaglochpisten mit Schlaglöchern "so groß wie Kinderbadewannen",
(Trotz 8 bar Reifendruck 4 Durchschläge des Hinterrades)
- unbefestigte Straßenabschnitte mit losem Sand, der mit Rennradbereifung
nicht befahrbar war.
- Schotterstrassen, die wegen sehr großer Schottersteine nicht
mit dem Rad befahrbar waren.
- Der Teer einiger Straßenabschnitte war in der Sonne so weich
geworden, dass dieser sich löste, an den Reifen haften blieb und die
schmalen Rennradreifen in den Belag einsackten.
Attacken agressiver Mücken, sobald das Fahrrad still stand.
Positive Eindrücke:
- Gute Organisation, gute (wenn auch ungewohnte) kohlenhydratreiche Verpflegung, zahlreiche
Schlafmöglichkeiten in Zelten oder Schulen.
- Die Kontrollstellen befanden sich großteils an
sehenswürdigen Orten oder waren Zelte mit Lagerfeuer am Seeufer.
- Freundliche freiwillige Helfer an den Kontrollstellen
erzeugten fast familiäre Atmosphäre.
- Freundschaftlicher Umgang aller Teilnehmer aus allen
Nationen.
- Sehr schöne Landschaft mit unzähligen Seen, endlosen
Birken- und Fichtenwäldern.
- Berauschendes nächtliches Farbenspiel der Natur. Der Sonnenuntergang
dauert stundenlang und geht direkt in den Sonnenaufgang über.
- Aus den Seen aufsteigender Nebel erzeugt nach Mitternacht ein diffuses Licht:
„Die weißen karelischen Nächte“.

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Manfred nach der Tour zufrieden in St. Petersburg
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33 Teilnehmer erreichten den Zielort.
Der Radsport-Club "BalticStar" beabsichtigt den Radmarathon „Vologda-Onega-Ladoga“ erneut zu veranstalten.
Ich werde wieder dabei sein :-))

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Manfred's Medaille
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Zu den Fotos des russisch-karelischen Abenteuers
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